21.04.2010 | Von Daniela Englert

WOHNUNGEN

Sozialmieter müssen draufzahlen – oder ausziehen

Nach dem Ende der Anschlussförderung drohen 28.000 Haushalten drastische Preiserhöhungen. 30 Prozent und mehr sollen Mieter von Sozialwohnungen dann zahlen. Die Betroffenen prüfen eine Verfassungsklage.

Eine Mieterhöhung von fast 30 bis 50 Prozent, angekündigt zum 15., wirksam ab 1. des Folgemonats und dann entweder
200 Euro mehr Miete zahlen – oder sich eine neue Bleibe suchen. Vor dieser Entscheidung stehen in Berlin immer mehr Mieter von Sozialwohnungen. Bewohnern der Schöneberger Str. 5 im Kreuzberger Fanny-Hensel-Kiez droht seit Jahresbeginn schon die zweite kräftige Mieterhöhung: Ab 1. Mai sollen sie 9,62 Euro pro Quadratmeter zahlen — zu Jahresbeginn waren es noch 5,33 Euro, fast eine Verdoppelung und mehr, als der Mietspiegel hergibt. „Dieses Beispiel belegt noch einmal, wie schutzlos Mieter im sozialen Wohnungsbau Mieterhöhungen ausgeliefert sind“, sagt Reiner Wild, Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins.

Rund 28 000 Wohnungen sind in Berlin hiervon betroffen. Die Regelungen des Mieterschutzes, wie sie im frei finanzierten Wohnungsbau gelten, wo der Vermieter die Miete um maximal 20 Prozent innerhalb von drei Jahren anheben darf und der Mieter einer Erhöhung widersprechen kann, finden bei den betroffenen Wohungen keine
Anwendung. Mieterhöhungen können hier einseitig erklärt werden und zum Teil drastisch ausfallen.

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Die langjährige Subventionspraxis hatte jedoch auch die Baukosten für den sozialen Wohnungsbau in die Höhe getrieben und damit die Kostenmieten: In der Schöneberger Str. 5-6a liegt diese nun bei 13,02 Euro. An den übrigen Kreuzberger Adressen beträgt sie laut Bezirksamt inzwischen sogar bis zu 18,41 Euro pro Quadratmeter. Gleichzeitig entfällt für die Wohnungen auch die Belegungsbindung. Zieht der Mieter aus, kann sich der Vermieter zahlungskräftigere Mieter suchen. Ein Wohnberechtigungsschein ist nicht mehr erforderlich.[…]

Die Empörung der Mietervertreter ist groß: „Viele Mieter wissen gar nicht, auf was für einem Pulverfass sie sitzen“, sagt Fanny-Hensel-Mietersprecher Sebastian Jung. Notfalls wolle man vor dem Verfassungsgericht klagen: „Aus unserer Sicht wird hier der Gleichbehandungsgrundsatz verletzt“, sagt Jung. „Wir sind schlechter gestellt, als Mieter im privatwirtschaftlichen Bereich“, klagt auch der Schöneberger Mietersprecher Dieter Bernhardt.

Viele Mieter, die nicht zahlen können, können jedoch nicht warten, bis Gerichte entscheiden. Kemal Atak hat aus Angst vor einer finanziellen Notlage hat er nach der ersten Erhöhung sofort gekündigt. Weil die Wohnung teurer ist, als das Jobcenter erlaubt, zahlte der arbeitslose Familienvater bereits seit zweieinhalb Jahren selbst einen Teil dazu, um im Kiez wohnen bleiben zu können. Jetzt sollten 190 Euro auf einen Schlag dazukommen: „Es ist sehr traurig. Wir haben die multikulturelle Nachbarschaft hier sehr gemocht.“ Ende April zieht die Familie nach Wedding, die Wohnung ist deutlich kleiner und billiger, aber keine Sozialwohnung „In diese Falle möchte ich nie wieder kommen“, sagt Atak. Seine Nachbarin Hatice Caglayan sucht noch. Die alleinerziehende Mutter dreier Söhne lebt von Hartz IV und musste wegen der Mieterhöhung kündigen. Bis zum Sommer darf sie bleiben, dann droht die Räumung. Sie hofft auf die Hilfe von Bezirk und Senat.

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Sozialmieter müssen draufzahlen – oder ausziehen
Vollständiger Artikel im Tagesspiegel vom 21. April 2010