07.03.2013 | von ROLF KREMMING

Der Soziale Wohnungsbau soll jedem Bürger die Möglichkeit geben, in einer bezahlbaren Wohnung zu leben. So war es gedacht, als in den 1950er Jahren das Wohnungsbaugesetz verabschiedet wurde. Heute sieht die Realität anders aus. Oft sind Mieten dort teurer als auf dem freien Wohnungsmarkt. Staatliche Zuschüsse wurden gestrichen, Anschlussförderungen vom Senat nicht mehr bewilligt. 2003 fielen 28 000 Wohnungen aus der Sozialbindung. Zur Freude der Vermieter. Die Mieten explodierten.

Katrin Schmidberger (30), Sprecherin für Mieten und soziale Stadt von Bündnis 90/Die Grünen: „Es ist unzumutbar, wie in Berlin mit Sozialmietern umgesprungen wird. Den privaten Investoren wird der rote Teppich ausgerollt, die Mieter müssen zahlen. Wir fordern eine politische Mietobergrenze, die auch den Einkommensschwächeren bezahlbaren Wohnraum bietet.“ Im Artikel 28 der Berliner Verfassung heiße es schließlich: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum… insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen.“

In der Praxis sieht es aber leider anders aus. Da das Jobcenter nicht die real geforderte Miete bezahlt, sondern ihre eigenen Regelsätze hat, sind viele Mieter gezwungen auszuziehen, unterzuvermieten oder sich den Mehraufwand vom Geld ihres Lebensunterhaltes abzusparen. Schmidberger: „Wir fordern deshalb einen Mieterhöhungsstopp für die nächsten fünf Jahre.“
Herzlich willkommen, steht in bunten Buchstaben im Flur des Hauses Palisadenstraße 46. Die einen sehen das als Hohn ihrer jetzigen Wohnsituation, die weniger Pessimistischen als gutes Zeichen für Kommendes. Im sechsten Stock wohnt Karl-Heinz Volck, 77 Jahre alt und kein bisschen leise. „Es sind die Rebellen, die die Welt verändern und nicht die Zaghaften“, sagt der Rentner, der nach drei Schlaganfällen und im Rollstuhl sitzend seine Kampfeslust nicht verloren hat. Auf den Straßen-Demos ist auch seine Frau dabei. Als Aktbild auf einem Plakat, das Volck in jungen Jahren von ihr gemacht hat. „Bis sie starb, haben wir gemeinsam demonstriert. Darum soll sie auch jetzt mitmachen.“

Vor ein paar Wochen saßen Uli und Sandy vom Kotti-Kiez an Volcks Bett und diskutierten stundenlang, was in Zukunft zu machen sei. Die Initiative KOTTI&CO hat mit ihrem Camp am Kottbusser Tor dafür gesorgt, dass Berlins Mietprobleme weit über die Stadt hinaus bekannt wurden. Kaltmieten von 6 Euro pro Quadratmeter werden hier verlangt, während das Jobcenter nur 4,86 Euro übernimmt. 3500 Menschen sind davon betroffen. Ein noch härteres Schicksal trifft Volck und seine Mitmieter in der Palisadenstraße, die in mit Steuermitteln behindertengerecht gebauten Häusern leben. „Im letzten Jahr flatterten uns Mieterhöhungen bis zu 100 Prozent ins Haus. Das hat Angst und Schrecken verbreitet. Einige haben gleich den Umzugswagen bestellt, andere wagten nicht mehr den Mund aufzumachen. Doch dann sind wir wütend geworden. In der Not haben wir uns solidarisiert und die Palisaden-Panther gegründet. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“
Der Protest der 200 Mieter hat sich gelohnt. Der Eigentümer hat die Miete auf 7,60 Euro gesenkt. „Doch die Angst bleibt. Die reduzierte Miete ist ein Entgegenkommen und jederzeit widerrufbar. Mit anderen Worten: Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann.“

Auch das Ehepaar Elvira (77) und Wolfgang (79) May gehören zu den Palisaden-Panthern. Nachdem der 79-jährige vor vier Jahren einen Schlaganfall erlitt, sollte der Umzug in die barrierefreie Wohnung der letzte sein. „Nachdem ich 100 Prozent schwerbeschädigt war, zogen wir in die rollstuhlgerechte Wohnung und wollten hier unseren Lebensabend genießen. Ich lernte mit Hilfe meines Sohnes wieder laufen. Zwölf Meter vom Balkon bis zum Schlafzimmer. Anfangs fast ein Marathon, heute kann ich wieder alleine auf die Straße gehen.“
Am 27. Juni feiern die Mays, die sich beim Steineklopfen auf der „Frankfurter“ lieben gelernt hatten, ihre Diamantene Hochzeit. 60 Jahre sind sie dann verheiratet. „Elvira und ich wollen mit unseren drei Kindern, den sieben Enkeln und zwei Urenkeln auf jeden Fall in unserer Wohnung feiern.“

Auch Sebastian Jung ist einer von denen, die sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Der 38-jährige ist der Mietrebell im Fanny-Hensel-Kiez in Kreuzberg. Vom Balkon seiner Anderthalb-Zimmer-Wohnung geht sein Blick über den gerundeten Bau bis hinüber zum Gruselbunker am Anhalter Bahnhof. Was er in den letzten Jahren auf dem Mietsektor erlebt hat, kann gut mit dem Geschehen im Gruselbunker konkurrieren. „Seit vier Jahren arbeite ich wie Sherlock Holmes, recherchiere und trage die Teile wie bei einem Puzzle zusammen. Es ist unglaublich, was sich auf dem Berliner Sozialwohnungsmarkt alles abspielt.“ Und Jung hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Da hat der Vermieter mal eben seine Miete auf das Dreifache erhöht. „Am 15.April 2001 bin ich eingezogen. Die Miete betrug damals 440,01 DM (ca. 220 Euro) kalt für 50,46 qm. Heute zahle ich 656,98 Euro kalt. Die Häuser sind mit Mitteln des Sozialen Wohnungsbaus errichtet, aber 2003 vom Senat aus der Förderung rausgenommen worden.

Damit begann für viele Mieter im Fanny-Hensel-Kiez das große Zittern. Einige sind ausgezogen, andere haben geklagt. Ich habe von Anfang an gekämpft und mich für gerechtere Mieten eingesetzt. Als ich und andere Mieter uns wegen des Schimmelbefalls einzelner Wohnung gewehrt haben, bekam ich 2005 die Räumungsklage. Aber das Gericht hat sie abgewiesen.“ Als das Haus Ende 2009 verkauft wurde, ging die Kaltmiete von 5,33 Euro erst auf 7,04 Euro, drei Monate später auf 13,10 Euro rauf. Ebenfalls kalt. „Da tauchen doch böse Fragen auf…Seitdem überweise ich wie die meisten Mieter nur 7.04 € und warte auf das Gerichtsurteil.“

Artikel im Berliner Kurier vom 07.03.2013