23.06.2011 | von Jan Thomsen

Sozialwohnungen

Mietenpolitik wird Wahlkampfschlager

Bei 160.000 Sozialwohnungen in der Hauptstadt liegen die Mieten zum Teil schon deutlich über denen im freien Wohnungsmarkt.

Berlin – Für den unauflöslichen Widerspruch zwischen Wort und Tat hat Jutta Matuschek eine blumige Formulierung ersonnen: „Wenn ein Tsunami von Mieterhöhungen durch Berlin schwappt“, sagt die Finanzexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, „dann ist es nicht verwerflich, wenn die Linke zumindest einen Rettungsring auswirft.“

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Gestern Abend beschlossen die rot-roten Fraktionen das sogenannte Wohnraumgesetz. Es betrifft nur einen Teil des Wohnungsmarkts, mit 160000 knapp neun Prozent der rund 1,8 Millionen Wohnungen in der Hauptstadt, sorgt aber fraktionsübergreifend für Streit. Es geht um Sozialwohnungen, in denen wegen abstruser Förderpolitik der vergangenen Jahrzehnte Mieten teils deutlich über denen im freien Wohnungsmarkt verlangt werden. Jutta Matuschek ist, wie einige andere Linke, eigentlich klar gegen die im Gesetz vorgeschlagenen Regelungen, weil sie ihrer Ansicht nach den betroffenen Mietern kaum helfen, dafür aber en gros das ganze Gegenteil bewirken: „Dieses Gesetz führt zu einer Beschleunigung der Mietpreissteigerungen in der ganzen Stadt.“

Längere Kündigungsfrist

Zugestimmt hat sie gleichwohl – aus Koalitionsräson und eben wegen jenes neuen „Rettungsrings“: Dass Mieter in Sozialwohnungen nun ein halbes Jahr Zeit haben, nach einer Mieterhöhung auszuziehen, wenn sie die Preissteigerung nicht bezahlen können oder wollen. Bisher waren es zehn Wochen.

Über das Gesetz, in der Ursprungsfassung vorgelegt von Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), hatten sich auch die Wohnungspolitiker gestritten. Uwe Döring (Linke) handelte der SPD dabei einige Änderungen ab, räumt aber selbst ein, dass mit dem Beschluss allenfalls “ein sehr kleiner Einstieg in den Ausstieg„ aus dem bisherigen System gelungen sei.

Junge-Reyer wollte zunächst nur für einen Teil des Bestandes die längere Kündigungsfrist: Nämlich nur für jene rund 28000 Wohnungen, die nach einem rot-roten Senatsbeschluss von 2003 keine weitere Förderung mehr erhalten – und deren Mieten daher auf die sogenannte Kostenmiete (von beispielsweise 13 oder gar 15 Euro pro Quadratmeter) steigen konnten – was Eigentümer etwa im Fanny-Hensel-Kiez nahe dem Potsdamer Platz sofort zur Vertreibung sozial schwacher Mieter nutzten. Die Linke setzte nun durch, dass stets bei zehnprozentigen Steigerungen (oder 15-prozentigen innerhalb von vier Jahren) die verlängerte Kündigungsoption gilt. Zudem gibt es eine Härtefallregelung, mit der Mieter notfalls Zuschüsse bis zur ortsüblichen Miete erhalten.

Zweckentfremdung von Mietwohnungen

Andreas Otto von den Grünen nannte den Beschluss dennoch ein reines „Wahlkampfgesetz“, das das Problem der hohen Kostenmieten nicht löse und daher auch Fälle wie den Fanny-Hensel-Kiez nicht verhindere. Michael Brauner (CDU) prognostizierte erfolgreiche Klagen von Eigentümern, weil das Gesetz nicht rechtssicher sei. Klaus-Peter von Lüdeke (FDP) beklagte, dass gezielt mit der Angst der Mieter vor Mieterhöhungen gespielt werde.

Jutta Matuschek hat allerdings ausgerechnet, dass bis 2013 rund 20.000 Sozialwohnungen ganz regulär in den freien Markt entlassen werden – und weil deren Mieten meist über dem Mietspiegel lägen, treiben sie das Niveau insgesamt nach oben, kritisiert die Finanzexpertin. Eine im Gesetz vereinbarte Deckelung aufs ortsübliche Level gelte letztlich nur für ein paar Hundert Wohnungen.

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Artikel in der Berliner Zeitung vom 24.06.2011